Die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft weckt bei vielen Menschen weltweit Begeisterung und Emotionen, unabhhängig davon, ob sie passionierte Fußballfans sind oder nicht. Doch was steckt hinter dieser anhaltenden Begeisterung für solche Sportereignisse?

Zugegeben, ich bin nicht der größte Fußballfan. Doch, sobald ein großes Sportereignis ansteht, wie jetzt die Fußball-Europameisterschaft, bin ich die Erste, die Fähnchen am Balkon aufhängt, das WM-Trikot von 2014 raussucht, sich beim Familien-Tippspiel auf den Torschützenkönig festlegt und zum Private Viewing einlädt.

Die Euphorie, die derzeit vielerorts spürbar ist und die mit jedem Tag größer wird, mit dem wir uns dem Anpfiff nähern, fasziniert mich – und offenbar auch sehr viele andere Menschen.

Aber was ist es, das solche Sportgroßereignisse so kraftvoll macht, dass sie selbst Menschen wie mich, die normalerweise nicht viel mit Fußball am Hut haben, in ihren Bann ziehen? Diesem Phänomen möchte ich mal aus psychologischer Sicht auf den Grund gehen.

1. Gemeinschaftsgefühl und soziale Identität

Wir alle haben ein Grundbedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. Wenn wir nun gemeinsam mit anderen Menschen ein Spiel schauen – sei es im Stadion, in einer Bar oder zu Hause vor dem Fernseher – entsteht ein unvergleichliches Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Der Sozialpsychologe Henri Tajfel entwickelte die Theorie der sozialen Identität, die besagt, dass unser Selbstwertgefühl stark von unserer Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen abhängt. Während der Europameisterschaft identifizieren sich viele Menschen ganz besonders mit ihrem Lieblingsteam, was das Gemeinschaftsgefühl und die emotionale Bindung intensiviert.

2. Helden und Dramen

Wir lieben Helden und Dramen – und Sportgroßereignisse bieten die perfekte Bühne dafür. Athleten, die herausragende Leistungen erbringen, werden zu Helden stilisiert und ihre Geschichten werden in den Medien breit diskutiert. Diese Heldengeschichten erfüllen unser Bedürfnis nach Inspiration und Vorbildern. Joseph Campbell’s Theorie des „Heros in tausend Gestalten“ beschreibt, wie Menschen von Erzählungen über Heldenreisen in den Bann gezogen werden. Internationale Sportwettbewerbe liefern genau solche Geschichten in Hülle und Fülle.

3. Eskapismus und Ablenkung

In einer Welt voller Herausforderungen und Stress bieten uns große Sport-Events eine willkommene Ablenkung und die Möglichkeit zum Eskapismus. Sie erlauben uns, für eine Weile unsere Sorgen zu vergessen und uns auf etwas Positives und Aufregendes zu konzentrieren. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi spricht in diesem Zusammenhang von „Flow“ – einem Zustand völliger Vertiefung und Konzentration, den viele Menschen während solcher Veranstaltungen erleben.

4. Völkerverständigung und Frieden

Internationale Sportwettbewerbe wie die Fußball-Europameisterschaft stehen seit jeher auch für Gemeinschaft, Völkerverständigung und Frieden. Sie bringen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammen und fördern das Verständnis füreinander. Die Veranstaltungen symbolisieren also mehr als nur den sportlichen Wettkampf. Sie stehen für den globalen Zusammenhalt und die Möglichkeit, trotz unterschiedlicher Hintergründe die gleichen Ziele zu verfolgen.

Ich meine, dass uns solche Events gerade in Zeiten politischer Spannungen und gesellschaftlicher Herausforderungen Hoffnung geben können, weil sie zeigen, dass friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit möglich sind. Diese positive Botschaft kann uns inspirieren und ein Gefühl der globalen Verbundenheit schaffen, das weit über den Sport hinausgeht.

5. Die Verstärkung der Emotionen

Gustave Le Bon, ein französischer Arzt und Psychologe, beschrieb schon vor 130 Jahren in seinem Werk „Psychologie der Massen“, wie Individuen in einer Menschenmenge ein Stück ihrer Individualität verlieren und sich von der kollektiven Stimmung anstecken lassen. Bei Sportveranstaltungen ist dieses Phänomen besonders deutlich zu beobachten. Die Dynamik eines Stadions oder einer Fan-Zone kann dazu führen, dass wir intensiver jubeln, leiden und feiern, als wir es alleine tun würden. Und genau diese starken Emotionen bewegen uns und lassen Sportgroßereignisse zu unvergesslichen Erlebnissen werden.

6. Nostalgie und Tradition

Und dann ist da natürlich noch die Nostalgie. Schon, als ich kleines Kind war, hat sich bei uns zu Hause die ganze Familie versammelt, wenn große Sportereignisse im Fernsehen übertragen wurden. Wir haben zusammen gegrillt, den Garten dekoriert und getippt, wie die Spiele wohl ausgehen werden. Als Deutschland 1974 Fußball-Weltmeister wurde, war ich erst wenige Monate alt – und meine Eltern erzählen heute noch, dass ich vom Jubel beim entscheidenden Tor durch Gerd Müller aufgewacht bin. Ich war also von Anfang an dabei.

So oder so ähnlich sind vermutlich auch bei vielen anderen Menschen Sportgroßereignisse mit persönlichen Erinnerungen und Traditionen verbunden. Vielleicht ist auch bei Ihnen das gemeinsame Anschauen eines Spiels mit der Familie oder Freunden zu einem liebgewonnenen Ritual geworden, das Sie über die Jahre hinweg gepflegt haben und weiter pflegen. Und vielleicht freuen Sie sich deshalb auch schon auf das Erföffnungsspiel am 14.6.24 in München.

Auf eine aufregende, friedliche und unvergessliche Fußball-EM!

Und: Sollte Ihr Leben derzeit nicht viel Grund zum Jubeln bieten, denken Sie daran, dass Ihnen meine Praxistür immer offen steht. Ich unterstütze Sie gerne auf Ihrem Weg zu mehr Wohlbefinden und freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme.

Herzliche Grüße,

Ihre Sabine Eymann

 

Über die Autorin

Sabine Eymann, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Systemischer Coach und Diplom-Betriebswirtin. Sie war über zwei Jahrzehnte in der Personalentwicklung großer Dax-Konzerne tätig. Heute begleitet sie Menschen in psychisch herausfordernden Situationen und persönlichen Lebenskrisen. Weitere Schwerpunkte liegen u.a. in der Behandlung von Ängsten und Depressionen, unkontrollierten Emotionen, wiederkehrenden Mustern in Beziehungen sowie in der Stärkung von Selbstwert und Selbstmitgefühl.

www.psychotherapie-eymann.de